Mit Farbe und Phantasie: Die Auferstehung der chilenischen Hafenstadt Valparaiso

paraiso1

Die Hänge von Valparaiso

Was wäre, wenn Friedensreich Hundertwasser nicht nur Häuser, sondern eine ganze Stadt gebaut hätte? Für den Chilenen Gonzales, der Tag für Tag Gäste durch das Haus Pablo Nerudas führt, des berühmten chilenischen Schriftstellers, der 1971 den Literaturnobelpreis erhalten hat, ist es keine Frage – sie sähe aus wie Valparaiso.

Warum wie Valparaiso? Eine 300.000-Einwohner-Stadt, die auf mehr als vierzig Hügeln angelegt ist und in der sich viele Häuser finden, die außen mit Wellblech verkleidet sind – ein Material, das früher als Schiffsballast den Weg in die Stadt fand und das in den hellsten und grellsten Farben, die man sich vorstellen kann, angestrichen ist. Die Altstadt von Valparaiso, mit ihren bunten Häusern, die an steilen Hügeln kleben und zum Teil wirken wie Spielzeughäuser, hat etwas Pittoreskes. Vielfach wird erzählt, dass die Einwohner die Blechfassaden mit übrig gebliebener Schiffsfarbe gestrichen haben – und dass dadurch das Kunterbunt der Siedlungen auf den Hügeln zu erklären ist. Wie auf dem Cerro Alegre, dem Cerro Concepción oder dem Cerro Bellavista. Doch das ist vermutlich eine Legende. Denn die bunten Häuser, aber auch die faszinierende Graffitikultur in der Stadt, breiteten sich erst seit dem Jahr 1990 so richtig aus.

paraiso2

Die Straßen von Valparaiso

Eine Stiftung, welche die Stadtentwicklung in der chronisch klammen Hafenstadt unterstützen wollte, setzte auf Open Air Kunst. Sie bot zwanzig Künstlern die Möglichkeit, Häuser und Wände zu gestalten. „Cielo Abierto“ – offener Himmel – so hieß das Projekt, das eine Initiative von Kunststudenten aufgriff, die bereits 1969 damit begonnen hatten, sich der Wände der Hafenstadt zu bemächtigen. Die zweite Generation der Maler und Sprayer wurden zu Beginn der 90er Jahre eingeladen, Straßen, Mauern und Treppen auf dem Cerro Bellavista zu verzieren, insbesondere die Gassen zwischen der Calle Ferrari und dem Plaza Victoria. Unter ihnen waren Künstler wie Garcia Barrios, Roberto Matta und José Balmes. Eine Initiative, die zahlreiche Nachahmer fand – auch Wohnhäuser und Autowerkstätten, Jugendherbergen und Cafés in Valparaiso schmücken sich heute mit Graffiti.

Street Art hat in Valparaiso wenig mit Schmiererei und viel mit Kunst zu tun. Wobei die Graffiti-Kultur in Valparaiso auch Zeiten erlebte, in denen sie keineswegs offiziell gefördert wurde, sondern ein Zeichen des Widerstands war. Nach dem Militärputsch in Chile im Jahr 1971 waren die Medien von der Pinochet-Junta kontrolliert und wurden zensiert. Das heimliche Anbringen von Graffiti war eine Möglichkeit, Protest gegen die Regierung in die Welt zu schreien. Diese Zeiten sind gottlob vorbei – und Graffiti ist in Valparaiso inzwischen so anerkannt, dass es der Stadtverwaltung längst nicht mehr darum geht, sie zu bekämpfen. Sondern darum, sie zu fördern und zu steuern. Denn die Graffiti in Valparaiso sind längst eine Touristenattraktion.

Mehrmals pro Woche organisieren junge Chilenen eine Graffiti Street Art Tour, bei der Graffiti-Highlights besucht werden, die von Szene-Größen wie Cekis, Horate, Grin, Saile, Inti, Chaquipunk, LRM, Fisek oder UnKolorDistinto erstellt wurden. Während der mehrstündigen Tour, so beteuern die Veranstalter, seien mehr als 200 Graffiti zu bewundern. Mit einigen der aktivsten Sprayer treffen sich die Graffiti-Spaziergänger auch zum Plausch. Graffiti hat schließlich die unterschiedlichsten Facetten. Es gibt Cartoons und comicähnliche Wandmalereien, abstrakte Bilder und surrealistische Werke. Wandbilder mit dicken Rändern und einfachen Farben haben oft politischen Hintergrund, sie waren einst ein Markenzeichen kommunistischer Künstler im Widerstand gegen Pinochet. Ebenfalls politisch inspiriert ist die Grafittiform Pixacao.

Ihre Wurzeln liegen bei brasilianischen Künstlern, die gegen die sozialen Gegensätze in ihrer Gesellschaft ansprayten. Sie unternahmen halsbrecherische Aufstiege, um ihre Botschaften an besonders exponierten Stellen zu platzieren. Daneben gibt es Throw-ups, aufgeblasene Buchstaben, die zu Worten oder kurzen Sätzen geformt sind. Sind die Buchstaben so groß, dass die Wand komplett von ihnen bedeckt ist, spricht man von Blockbustern. Wem es nicht reicht, bemalte Wände, Mauern und Treppen und die wichtigsten Graffiti-Spielarten kennen zu lernen, der hat die Möglichkeit, bei einer nächtlichen Aktivtour selbst Hand anzulegen. In drei Stunden zum Künstler, so lautete das Motto der Graffiti-Aktiv-Tour. Spraydose und Schutzhandschuhe sind ebenso inklusive wie die Anleitung durch einen erfahrenen Sprayer.

Doch der Reiz Valparaiso entsteht nicht allein aus den bunten Häusern und aus den allgegenwärtigen Graffiti. Die Stadt, die so schön ist, dass einem davon schwindlig werden kann, hat einen speziellen Zauber. Dieser entsteht aus ihrer Topographie, rührt aber auch daher, dass die Entwicklung in Valparaiso vor 100 Jahren fast stehen geblieben ist. Das lag am Ende des Salpeterbooms – eine Folge der Patentierung des Kunstsalpeters um das Jahr 1910 herum. Und mehr noch am Bau des Panamakanals im Jahr 1914. Im 19. Jahrhundert, vor dem Bau des Kanals, war Valparaiso der erste große Hafen nach der Umsegelung von Kap Hoorn. San Francisco und Valparaiso waren damals die beiden wichtigsten Häfen an der Westküste Südamerikas. Damit war es nach dem Bau des Kanals schlagartig vorbei.

paraiso3

An manchen Ecken der Stadt scheint die Zeit still zu stehen

Die auf mehr als vierzig Hügeln angelegte Stadt, die nach einem Tsunami und einem Erdbeben im August 1906 gerade erst neu aufgebaut worden war, verfiel in eine Art Dornröschenschlaf. Valparaiso, eine Stadt, in der es vielerorts Treppen statt Straßen gibt und in der früher mehrere Dutzend Aufzüge von den unteren zu den oberen Stadtvierteln führten, verlor rasch an Bedeutung. Was den Vorteil hatte, dass vieles erhalten geblieben ist, weil das Geld für neue Projekte fehlte. Während Santiago de Chile geradezu explodierte und zu einer Sechs-Millionen-Einwohner-Metropole heranwuchs, stagnierte Valparaiso. Bis kurz nach dem Ende der Militärdiktatur mit dem Projekt „Cielo Abierto“ ein neues Selbstbewusstsein in der Stadt erwachte. Die Häuser wurden bunter und gepflegter, die ersten Hostels öffneten ihre Pforten.

Im Jahr 2003 dann schließlich der Paukenschlag: Die Anerkennung Valparaisos als UNESCO–Weltkulturerbe. Damit setzte in der Hafenstadt ein Immobilienboom ein, bei dem manch einem schwindlig wird. Boutiquehotels und Edelrestaurants profitieren von der Neugierde der Besucher auf bunte Häuser, steile Treppen und verwegene Graffiti. Die traumhafte Lage der Stadt, die Besucher an San Francisco, Lissabon oder Salvador de Bahia erinnert, der Hafen, die gewaltigen Schiffe in der Bucht, die altmodischen Aufzüge, von denen 15 erhalten, aber derzeit nur vier in Betrieb sind, die Hügel voll bunter Häuser: All dies lässt sich in Valparaiso nicht nur in real erleben – es ist auch das Hauptmotiv vieler Wandmalereien, mit denen sich die zu neuem Leben erwachte Stadt inzwischen selbst feiert. Was für eine phantastische Wiederauferstehung!

Rainer Heubeck

Infos

Anreise: LAN Airlines fliegt von Frankfurt über Madrid nach Santiago de Chile (www.lan.com, Tel. 0800/5600751).Eine Bus- oder Taxifahrt von Santiago nach Valparaiso dauert circa 90 Minuten.

Infos zu Chile:

Chilenisches Generalkonsulat / Prochile, Birgit Uthmann, Tel. 040 335835, Mail:
birgit.uthmann@prochile-hamburg.de, www.chile.travel

Infos zu Valparaiso:
http://www.ciudaddevalparaiso.cl
http://valparaisodecoleccion.blogspot.de/

Graffititouren durch Valparaiso:
http://graffiti.tourguideschile.com

Deutschsprachige Führungen durch Valparaiso:
http://www.myvalparaiso.cl

Beste Reisezeit: Oktober bis April

Online-Reisejournal 2015